
Radikale Pragmatisten
Angelika Fitz im Gespräch mit Christian Aulinger und Mark Gilbert, Gründer trans_city
Aus den Begriffen „trans“ und „city“ setzt sich der Büroname zusammen. Das entspricht der Überzeugung, dass die großen gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in den Städten entschieden werden und dass sie Disziplinen überschreitend bearbeitet werden müssen. So antworten trans_city auf die zunehmende soziale Ungleichheit mit Low-Cost Modellen im Wohnbau, bei denen sie gerade nicht an der räumlichen Qualität sparen. Sogar eine echte Alternative zum eigenen Einfamilienhaus ließe sich innerhalb der engen Rahmenbedingungen des geförderten Wohnbaus realisieren, wie sie in einer breit angelegten Studie nachweisen. Neben architektonischen, konstruktiven und städtebaulichen Innovationen suchen trans_city neue soziale Wege zwischen Versorgungssicherheit und Selbstorganisation, zwischen ökonomischer Bauweise und partizipativer Planung. In ihren angewandten Forschungsprojekten bekommt das Wort „trans“ auch eine geopolitische Dimension, etwa wenn trans_city einen Wissenstransfer zwischen postindustriellen Problemstellungen und globalen Krisenregionen etablieren. Für Haiti entwickelten sie eine nachhaltige Notfallsarchitektur aus vorgefertigten Holzmodulen. Das System bewährt sich mittlerweile in ähnlicher Form in einer stark wachsenden Stadt wie Wien: für schnelle und kostengünstige Lösungen im Schul- und Kindergartenbau.
Beeindruckend unaufgeregt entfalten trans_city ihre innovativen Lösungen. „Radikaler Pragmatismus“ nennen sie ihre Haltung, die auf die großen formalen Gesten einer Signatur-Architektur verzichtet. Pragmatisch zu agieren, heißt, dass man den Status Quo genau analysiert und die Fakten ernst nimmt, die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer, die politische Lage, die Bauherrn und die ökonomischen Rahmenbedingungen, um dann umso präziser die Lücken zu finden, die eine Transformation des Status Quo erlauben. Ihre Innovationskraft konzentrieren sie auf jene Bereiche, wo neue Ideen wirklich gebraucht werden, zum Beispiel wenn es darum geht räumliche Konfigurationen für Lebensstile zu finden, welche die traditionelle Kleinfamilie längst verlassen haben. Für Dogmatismen ist hier kein Platz. Lange feilen sie an Grundrissen und modularen Kombinationsvarianten und bemühen sich gleichzeitig, Architektur und Städtebau niemals überzudeterminieren. Die Schönheit liegt im Alltäglichen und im Beiläufigen, sie entsteht durch soziale Aneignung. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man die vielen gemütlichen Ecken im strukturellen Gefüge ihrer Gebäude. Treppenabsätze laden zum Plausch, Wege werden zu Plätzen. Die Schwellen zwischen privat und öffentlich lassen sich flexibel bespielen. trans_city verleihen der Idee einer menschenfreundlichen Architektur eine neue Aktualität. Mit ihrem Realitätssinn, ihrer hohen Analysefähigkeit und ihrer antizipativen Imagination geben sie der Architektur ihren gesellschaftlichen und kulturellen Sinn zurück.
Im Gespräch mit der Autorin erklären Christian Aulinger und Mark Gilbert, was den Kern ihrer Haltung ausmacht und wie sie zu radikalen Pragmatisten wurden.
Angelika Fitz: trans_city ist ein Architekturbüro, das Architektur als gesellschaftspolitische Praxis versteht. Was können Architekturschaffende zu den großen Fragen des 21. Jahrhunderts, zur zunehmenden sozialen Ungleichheit, zum Klimawandel oder zu den Friktionen einer kulturell diversen Gemeinschaft beitragen? Können sich Architekten da überhaupt zuständig fühlen oder muss man vor der Größe der Fragen schlicht zurückweichen?
Mark Gilbert: Es geht um die Frage, wie die Gesellschaft mit Raum umgeht. Welche Rechte und Möglichkeiten hat ein Individuum oder ein Kollektiv, um sich Raum anzueignen, sei es im städtischen oder ländlichen Kontext? Wobei wir behaupten, dass langsam alles Stadt wird, auch augenscheinlich ländliche Gebiete werden von urbanen Prozessen überzogen. Unsere Aufgabe als Architekten ist sowohl die Gestaltung von Raum als auch die Organisation von Raum, und beide Prozesse sind sehr eng verbunden. Das betrifft Gleichheit, Nachhaltigkeit und vor allem die Tatsache, dass Räume viele Ansprüche erfüllen müssen. Die Ansprüche haben sich durch die kulturelle Diversität und die Vielfalt der Lebensstile stark verändert.
Christian Aulinger: “We do cities” steht als Motto auf unserer Webseite. Das ist für uns ein Mantra. Selbst wenn ich den ersten Stein auf eine grüne Wiese setze, könnte das der erste Stein für eine Stadt sein. Mit diesem Bewusstsein agiert man stets für eine Gesellschaft im weiteren Sinn. Und man landet irgendwann bei der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Wir sehen uns aber nicht als Anwälte einer ganz bestimmten Gruppe. Es geht um eine breite Benutzbarkeit von Stadt.
MG: Wir sind keine Utopisten. Ganz im Gegenteil. Aber in jeder Situation und jeder Problemstellung verbirgt sich eine Potentialität. Mutationen sind möglich, evolutionäre Prozesse können sich verändern.
AF: Könnt ihr das an einem Beispiel erklären? Beim Projekt Green Terraces bezieht ihr euch auf das Bedürfnis nach einem Einfamilienhaus. Am Thema der Verdichtung oder Stapelung von Einfamilienhäusern haben sich schon viele abgearbeitet. Was fügt ihr dem hinzu?
CA: Wir wollten herausfinden, was unter den derzeitigen Rahmenbedingungen des geförderten Wohnbaus möglich ist. Ist es zur Zeit technisch umsetzbar, dass man gestapelte Gärten baut? Oder ist das ein Luxusthema? Wir sind dieser Frage in einem interdisziplinären Team aus Landschaftsplanern, Statikern, Bauphysikern bis ins letzte Detail nachgegangen und können nun die Antwort geben: Es ist machbar, und zwar innerhalb der Rahmenbedingungen des geförderten Wohnbaus. Das ist natürlich ein Appell an das System!
MG: Nachhaltigkeit ist für uns eine soziale Frage. Wie kann man die Ressource Raum in der Stadt so intelligent nutzen, dass alle davon profitieren? Dazu kommt ein kulturelles Interesse. Ich habe selbst einen kleinen Garten und weiß wie viel Freude das macht. Allerdings ist es sehr schwierig, Garten und Urbanität zu verbinden. Green Terraces ist einen Versuch, diesen Gegensatz aufzulösen. Und drittens geht es um eine wirtschaftliche Frage. Viele Menschen können sich das Haus am Stadtrand nicht mehr leisten. Andere, wie Singlehaushalte oder Patchwork Familien wollen sich das nicht leisten oder sie wollen trotz ihres Bedürfnisses nach Grün auch eine urbane Nachbarschaft.
CA: Wir nehmen die Bedürfnisse ernst. Wir wollen sie nicht kritisieren, aber wir versuchen sie räumlich besser und gerechter zu organisieren.
MG: Eine ähnliche Strategie verfolgt unser aktuelles Projekt zwei+plus. Hier geht es um Familienstrukturen im weitesten Sinn, bis hin zu Wahlverwandtschaften. Also: wie diese Verwandtschaften heutzutage mit einander leben wollen, und können. Konkret das heißt, man lebt nicht direkt im Familienverband, aber doch in räumlicher Nähe. Die Idee ist, dass bei der Wohnungsvergabe immer zwei Wohnungen gemeinsam vergeben werden. Das kann an zwei Generationen einer Familie sein, an zwei Teile einer Patchworkfamilie oder an zwei befreundete Alleinerzieherinnen. Die Idee ist einfach, aber die administrative Umsetzung ist komplizierter als die räumliche.
AF: Das zeichnet trans_city generell aus, dass Entwerfen immer bedeutet, Räume und soziale Prozesse gleichzeitig zu denken, also auf der Hardware und Software Ebene zu arbeiten. Andererseits können Architekten nur beschränkt in administrative Prozesse von Bauträgern eingreifen?
CA: Im Fall von zwei+plus wurde die Idee schon im Wettbewerb gemeinsam mit dem Bauträger, Soziologen und einem gleichgesinnten Architekturbüro – 1 zu 1 Architektur – entwickelt. Sie ist untrennbar mit unserem Entwurf verbunden. Wir haben über die Jahren Wohnangebot und -nachfrage beobachtet und festgestellt, dass am Markt wichtige Bedürfnisse nicht erfüllt werden und das es machbar sein sollte, Wohnungen im Tandem zu vergeben, nicht nur bei Neubauten, sondern auch bei Wiedervermietungen. Das ganze bildet sich zwar nicht auf den ersten Blick in der Architektur ab, auch nicht auf den zweiten Blick. Aber wichtig ist, dass mit dieser Programmierung der Wohnungsmix ganz anders aussieht. Es gibt eine große Vielfalt von Wohnungstypen pro Geschoß und eine hohe Flexibilität, um Größen und Funktionen bei Bedarf wieder zu ändern.
AF: Eine Stärke von trans_city liegt darin, nicht alles neu zu erfinden, sondern Bewegung in vorhandene Systeme, wie dem geförderten Wohnbau oder dem öffentlichen Schulbau, zu bringen. Es war schon die Rede von Mutationen in der Evolution von Systemen. Nun wissen wir aber, dass gerade die wichtigsten Entwicklungsschritte oft aus Fehlern entstanden sind, aus Fulgurationen. Wo haben bei trans_city produktive Fehler oder Missverständnisse geholfen?
MG: Ich würde lieber von Verunreinigung sprechen. Und diese Verunreinigung kommt ganz stark aus unseren Erfahrungen mit anderen kulturellen Kontexten. Der geografische und kulturelle Wissenstransfer bringt die Systeme mitunter ganz schön durcheinander. Zum Beispiel flossen beim Projekt Podhagskygasse Erfahrung aus Haiti und Indien ein, vor allem was die mehrfache Belegung der Außenräume betrifft. Oder auch aus den USA.
CA: Wieso muss zum Beispiel das Auto immer in der Tiefgarage verschwinden? Kann es nicht einen qualitätsvollen geteilten Raum geben? Wenn man diese Entscheidung trifft, dann kommt man automatisch auf andere Gebäudeformen und Siedlungstypologien.
MG: Plötzlich hat Christian vom Anger gesprochen und ich von den USA: Los Angeles trifft auf Kagran. Ein paar radikale Änderungen haben einen Raum produziert, der sehr außergewöhnlich, sehr fließend und offen ist.
AF: Das Thema der wechselseitigen Verunreinigung scheint mir angesichts der global angelegten Forschungsprojekte von trans_city besonders interessant. Ihr sagt nicht, jetzt erarbeiten wir ein Modell für den globalen Süden und ein anderes Mal für Europa, sondern es gibt einen ständigen Knowhow-Transfer. Was viele dieser Projekte verbindet ist, dass sie an der Schnittstelle von formell und informell arbeiten. Das Informelle wurde ja lange auf die Ränder projiziert und entsprechend exotisiert, während in den letzten Jahren erkannt wird, welche Rolle informelle Strukturen auch in der europäischen Stadt spielen oder spielen könnten.
MG: Ein wichtiger Punkt sind die belebten Zwischenräume und die Schwellen. Eine Außenstiege führt hinauf in eine Wohnung und ist gleichzeitig eine Sitztribüne, wo man sich trifft. Was vielleicht in Indien mehr genutzt wird als in Wien, aber es hat immer noch diese Potentialität.
CA: Das klingt jetzt vielleicht banal, aber wir haben lange überlegt, was verändert eine ausliegende Treppe an einer Wohnungsanlage. Da geht es nicht nur um den Kostenfaktor, sondern um das Atmosphärische. Es hat etwas Romantisches, etwas von Urlaub. Die Leute bewegen sich über eine Stiege im Freien anders.
AF: Wie in der Westside Story!
CA: Ja, es macht den öffentlichen Raum zum Bühnenbild. Wir haben die 12 Treppen in der Podhagskygasse bewusst so zum öffentlichen Raum platziert, dass sie präsent sind. Und dann passiert etwas in der Wohnanlage.
AF: Wechseln wir doch von Wohnbau noch zum Schulbau, wo ihr euch ebenfalls mit kostengünstigen Modellen beschäftig habt, vor allem aber mit schnell zu errichtenden Einheiten für die rasch wachsenden Stadt und ihren Infrastrukturbedarf.
MG: Wir sehen die Kosten-Nutzen-Rechnung nie nur als eine wirtschaftliche Gleichung. Ein Bauträger macht diese Rechnung auf mathematischer Basis und unsere Rolle ist es, hier den Blick zu weiten. Wir wollen kein Werkzeug der wirtschaftlichen Optimierung sein.
AF: Ganz im Gegenteil, trans_city ist immer auf der Suche nach der Lücke die der Teufel lässt, um Alexander Kluge zu zitieren. Nochmals zurück zu eurem Holzsystembau für Schulen und Kindergärten. Sind die als temporäre Lösungen gedacht oder könnten sie eine längere Lebensdauer haben?
CA: Begonnen haben die Projekte mit einem temporären Ansatz. Wir wurden von der Stadt Wien mit einer Studie beauftragt, in der wir einen Wissenstransfer von unseren Wiederaufbauprojekten, die ja als temporäre Strukturen gedacht sind, bewerkstelligen wollten.
MG: Es ist gewissermaßen ein japanischer Umgang mit Stadt, wo man sagt, es kann 100 Jahre – oder noch viel länger – stehen, muss es aber nicht. Holz ist dafür ein gutes Material. Die ursprüngliche Idee war, dass die Holzmodule schnell wieder abgebaut und an einer anderen Stelle aufgebaut werden können. Aber wenn sich Funktionalität und Identität an einem Ort verselbstständigen, kann ein Gebäude auch bleiben.
CA: Das heißt, die Qualität ist auf ein permanentes Gebäude ausgerichtet, aber die Errichtungszeit auf ein temporäres. Damit das gelingt, arbeiten wir mit einem sehr robusten Brettsperrholzsystem und denken in Modulen. Es geht um das Lernen vom Temporären.
AF: Und es geht um Standardisierung, was ich extrem spannend finde. In den letzten Jahrzehnten ist es eher Prototyping im Fokus gestanden, für jedes Gebäude sollte eine neue, originäre Lösung erfunden werden.
MG: Ja, alles ist auf maximale Varianz und Singularität zugeschnitten – customized. Auf der anderen Seite arbeitet die Produktion weiterhin mit Standardisierung. Man sieht das in der Autoindustrie. Wir machen das im Wohnbau ähnlich. Wir nehmen die standardisierte Schottenbauweise, aber innerhalb dieses Rasters gibt es einen Katalog von individuellen Möglichkeiten für die Bewohnerinnen und Bewohner.
CA: Und bei unseren Bildungsbauten in Holzsystembauweise sind die Module so konstruiert, dass sie die Fassaden- und Dachlösungen noch völlig offen lassen. Darum haben wir bei unseren Kindergärten ganz unterschiedliche Außenauftritte, denn diese beziehen sich auf den jeweiligen Ort. Wahrscheinlich schaut es so aus, als ob unsere vier Kindergärten von unterschiedlichen Architekten gebaut sind.
AF: Die Handschrift, die Signatur ist bei trans_city eher nicht augenscheinlich. Wie kann man mit diesem Ansatz in der Welt der medialen Bilder bestehen? Wie kommuniziert trans_city?
MG: Wir arbeiten sehr prozessorientiert. Es geht immer um das Problem. Wir reden mit den Bauherren und anderen Akteuren über das Problem. Und bei vielen Entscheidungsträgern kommt das sehr gut an.
CA: Und ich glaube, dass wir sehr gute Grundrisse machen. Das gilt auch für den städtebaulichen Grundriss. Im Grundriss zeigt sich die inhaltliche Programmierung eines Projektes.
MG: Vielleicht könnte man es so sagen: wenn eine Handschrift, dann zeichnet sie sich durch den Umgang mit Inhalt aus, nicht durch einen bestimmten Umgang mit Form.
AF: Was mich bei eurer Arbeit fasziniert ist, dass ihr so strukturell und programmatisch denkt, aber keine gebauten Diagramme produziert. Die Projekte behalten eine gewisse Beiläufigkeit. Mir vermittelt das den Eindruck: die Architekten lieben das Leben.
CA: Wir sind ja zwei und da spielt sich etwas ab. Wir haben ein ähnliches Verständnis von Architektur, aber dennoch unterschiedliche Zugänge. Ich denke sicher struktureller. Ich zeichne seit ich denken kann auf Millimeterpapier, während Mark wahrscheinlich skulpturaler, aber auch programmatischer denkt. Und ähnlich wie wir keinen Zwang verspüren, dass unsere Projekte Wiedererkennbarkeit beweisen, sind wir in der Zusammenarbeit uneitel. Es ist nicht wichtig, wessen Idee sich an einen bestimmten Punkt durchsetzt. Wir beobachten uns wechselseitig mit großem Interesse.